Guida Kohler anlässlich der Ausstellung "Schicksale" in der Galerie zum Schlüssel in Horgen, Zürichsee Zeitung, November 2014

Dieter Leuenbergers nahezu fotorealistische Darstellungen vermitteln in einer scheinbaren Postkartenidylle die Gegenwart der Menschen, die sich jedoch seit langem vom Ort des Geschehens verabschiedet haben. In dieser Endzeitstimmung wuchert die Natur rund um die allgegenwärtigen Spuren der Zivilisation. Es sind diese Einzelheiten, die den Bildern eine gewisse Vertrautheit einhauchen. Beim zweiten Anblick aber verstören die Szenerien, da der Künstler mit neuen, teils skurrilen Elementen in diese menschenleeren Räume eindringt und so eine Einsamkeit evoziert, die schmerzlicher kaum sein könnte - und faszinierender zugleich. Denn wenn beim ersten Betrachten die perfekte Wiedergabe der vermeintlich intakten Umgebung die Aufmerksamkeit auf sich lenkt, so regen beim zweiten Blick die menschlichen Hinterlassenschaften zum Denken an: Was ist geschehen? Wie war es? Wo fährt das hin? Und aus Dieter Leuenbergers "Schicksalen" entstehen Geschichten, die den eigenen Erfahrungen entspringen und dabei immer wieder andere Wendungen nehmen können.
Guida Kohler

Jean Ziegler
Anlässlich der Ausstellung «Bis der Regen nachlässt»

Dieter Leuenberger erweist mir die Ehre, mich um ein paar Zeilen zu bitten. Er nimmt ein gehöriges Risiko auf sich. Ich bin kein Kunstkenner, nicht einmal ein Kunsthistoriker. Sondern wie Cesare Pavese sagen würde: ein «uomo qualcunque», ein Mensch ohne Eigenschaften und Talente, jedenfalls was die mysteriöse Verwandlung der geschauten Realität in ein Kunstwerk anbelangt. Dieter Leuenberger bedient sich der Fotografie nicht als Vorlage, sondern als Anstoss. Er reist quer über den Planeten, entdeckt Licht, Nacht, Landschaften, Situationen und fotografiert diese.

Im Atelier an der Goldbrunnenstrasse in Zürich stellt er die Fotos auf einen Tisch, schaut sie an, und in seinem inneren Universum, in seiner Vorstellung und Imagination, transmutiert die fotografierte Realität zum Kunstwerk. Wie das genau vor sich geht ist rätselhaft. Dieter weiss es wohl selber nicht. Selbst der wieder auferstandene Charles Baudelaire, der solches mit den Bildern von Eduard Manet versucht hat, könnte den Vorgang nicht rational erklären. In der Geschichte der europäischen Malerei spielt die Fotografie eine höchst bedeutsame Rolle. Die ersten «Instantan©s» erscheinen 1863. Die ersten stereoskopischen Fotos 1865. Im Manet-Bild «L'Exposition universelle» steht ganz prominent das Stativ von Nadar. Übrigens hatten die Impressionisten 1874 im Fotoatelier von Nadar zum ersten Mal ihre Ausstellung. Manet, Degas, Monet arbeiteten oft wie Dieter Leuenberger. Bei Dieter ist der Vorgang noch rätselhafter, weil er selber “und nicht ein zeitgenössischer Nadar“ die Fotos macht, die dann das Bild auslösen.

Ich habe die Bilder oft und lange betrachtet. Im Atelier und dann zu Hause. Plötzlich merkte ich: Dieter interessiert sich ja gar nicht für den Regen. Regen ist Vorwand. Der Künstler sucht das Licht. Mit einer unglaublichen Leidenschaft. Er wartet auf den Durchbruch des freien Himmels im Regenwolkenmeer in «Fahrt in den Süden». In der «Wolkenreise» spiegelt sich rosa Licht auf dem Bahnquai und im Meer, bricht aus dem vom Wind bewegten Himmel. Ein wunderbares Bild! Voller Subtilität, Pracht und Schöpferkraft. Im «Auf Zimmersuche» “ ein anderes meiner Lieblingsbilder “ bricht das helle, milchige Licht wie ein Ostermorgenlicht in die Häuserschlucht ein.

Der Künstler malt eine liquide Welt, in der sich das Licht in tausendfacher Form spiegelt. Er malt auch eine vom Regen gereinigte Welt. «Un monde liquide, qu'il peint à l'abri, au sec», wie meine Frau, die Dieters Bilder ebenfalls liebt, viel gescheiter als ich sagt. «Die Kreuzung» illustriert diese Situation vorzüglich. Mental gesehen ist Dieter im Innern am Trockenen (im Innern des Autos), aber er malt die Landschaft von aussen, nicht durch die Fenster der alten Überlandlimousine. Helles diffuses Licht zeichnet den Horizont. Die endlose Landstrasse spiegelt Licht, nicht jenes, das am Horizont glänzt, sondern ein anderes, das aus einer im Bild nicht ersichtlichen, versteckten Quelle stammt. Aus den schwarzen Wolken zucken zudem blind-helle Blitze. Und dann sind da erst noch rechts längs der Strasse die elektrischen Leitungen, Leitdrähte des Lichts. Der Künstler hat hier die Metamorphosen des Lichts multipliziert, bis ins (fast) Unendliche.

Dieter Leuenbergers grossartiger Bildzyklus trägt einen irreführenden Titel. Aber auch wenn der Zyklus «Licht» heissen würde, wäre das immer noch falsch. Was tut dieser erstaunliche, rätselhafte Maler? Er malt nicht lichtüberflutete Landschaften. Auch keine stabilen Lichtquellen “ Kerzen, Feuerstellen etc. “ wie Georges de la Tour. Er fährt nach Kalifornien, an den Comersee, nach Genua und sucht nach den Stürmen, den Regengüssen, den schwarzen Wolkenbergen, nur um deren Überwindung und Annulation beizuwohnen. Das Licht, das wie im Zorn die Wolken zerreisst. Der gleissende Tag, der sich über Madonna della Steccata (im gleichnamigen Bild) erhebt. Dieter Leuenberger interessiert sich ausschliesslich für das siegreiche, plötzlich hervorbrechende Licht. Das licht als Wunder und unerwartetes Ereignis. Daher die atemberaubende Spannung, die diese Bilder füllt.

Wie alle bedeutenden Künstler will auch Dieter Leuenberger nicht über seinen eigenen Schöpfungsvorgang reden. Genauso, als ob er Angst hätte, dem Geheimnis seiner Schöpfungskraft zu nahe zu treten. Er ist ein diskreter, ironischer Mensch, mit einer mächtigen Intelligenz und viel Widerwillen über sich und seine Welt Auskunft zu geben. Es lohnt sich trotzdem, mit ihm zu reden. Bei einem kürzlichen Atelierbesuch fragte ich ihn, was denn eigentlich die vielen alten klinkerigen Limousinen in seinem Regenzyklus zu bedeuten hätten. Es war früher Vormittag. Dieter wollte wahrscheinlich so schnell wie möglich an die Arbeit und den unerwarteten Besucher los werden. Daher die knappe, aber doch absolut transparente Antwort: «Die Arche Noah, wahrscheinlich». Friederich Dürrenmatts Theaterstücke kann keiner verstehen, der das Pfarrhaus von Konolfingen vergisst. «Weltliteratur aus dem Emmental» schreibt Jens über Dürrenmatt. Dieter Leuenbergers Vater ist ein berühmter Theologe. Die Bibelmärchen kennt Dieter sicher auswendig. Vielleicht glaubt er sogar daran. Sie haben jedenfalls sein Werk “ insbesondere den Regenzyklus “ geprägt. Überall, in fast jedem Bild, ist die rettende, schützende, weltentrückte Arche zu finden. Die Autos natürlich, massive, antiquierte Limousinen mit festem, schüzendem Gehäuse; das Bahnhofsdach in der «Wolkenreise»; die eckigen Gemäuer in «Abendsonne».

Schaut man jedoch genauer hin, will sagen: denkt man gründlicher nach, entdeckt man plötzlich, dass dies Archen eigentlich ziemlich fragile, wenig sichere Zufluchtsstätten sind. Die Autos sind allesamt antquierte Schlitten, wie man sie zuhauf, von Rost zerfressen, entlang dem Malecon, dem regengepeitschten Ufer-Boulevard von Havanna keuchen hört. In «Carlettos Schiff» steht die Arche auf einem wackeligen Gerüst, das jeden Moment zusammenzubrechen droht. Und wie ungemütlich muss es dem Archebewohner im Bild «Bis der Regen nachlässt» zu Mute sein! Dort ist die Arche ein schütteres Gewächshaus. Unter dem Anprall des Orkans drohen die Scheiben jeden Moment zu bersten. Noch schlimmer ist die Situation in «Das Wüstenschiff». Da ist die Metapher gänzlich aufgehoben: Die Arche ist ein richtiger Holzkahn, liegt in einer Sandwüste und ist zerbrochen, als hätte ihn der Sturm, der sich inzwischen in die Wolkenberge zurückgezogen hat, besiegt.

Von Dieters Atelier führt das Tram 14 zum Bahnhof. Auf der Rückfahrt im Tram und danach im zug nach Genf überkamen mich Zweifel. Der unerhört eindrückliche und faszinierende Bildzyklus scheint vordergründig vor allen eines zu sein: eine Hymne auf die triumphierende Macht des alle Himmel durchbrechenden Lichts. «Das Wüstenschiff» aber liess mich bis aarau nicht los. Dann kam mir die Erleuchtung: Der regenzyklus ist ja gar keine Zelebration des Lichtes, sondern eine Patabel von höchster Aussagekraft über den ungemütlichen Zustand des Menschen. Deshalb sind die Bilder so ergreifend. Es gibt keine sicher Zukunft. Jeder träumt von der Arche. Diese aber ist im besten Fall eine rostige Amerikanerlimousine oder ein geborstenes Wüstenschiff. Es gibt keine Flucht. Keiner entrinnt dem Tod. Jedes Schicksal endet schlimm. Aber so lange wir noch da sind auf dieser von Orkan und Wasser gepeitschten erde, sehen wir das Licht. Es bricht hervor aus den Wolken, mit wundersamer Kraft. Wie auf den Bildern von Dieter Leuenberger.

Regine Helbling
Entnommen aus dem Biografischen Lexikon der Schweizer Kunst

Dieter Leuenbergers Bilder kreisen immer um dieselben Themen: Die Natur, Landschaften, Pflanzen und Tiere dringen in Räume ein, eine Abgrenzung zwischen Architektur und Umgebung, zwischen Innen und Aussen ist verwischt.
Durch einen langen Korridor zieht sich ein grasüberwachsenes Bahngleis, Schlangen oder Tauben tummeln sich auf dem weissen Laken eines Bettes, oder das Mobiliar eines Schulzimmers versinkt in einer Sanddüne. Die Bilder irritieren und muten surrealistisch an.

Leuenberger arbeitet in thematischen Zyklen, die er ausstellt und verkauft – damit sind sie für ihn abgeschlossen. Oft passt er den Ausstellungsort den Motiven an: eine Serie von Bildern der Badeanstalt Utoquai in Zürich wird auch dort gezeigt. Die Situation der offenen Räume, «deren Boden eigentlich das Wasser, deren Decke der Himmel ist» (Martin Kraft), dieses gleichzeitige Drinnen und Draussen fasziniert ihn. Ein Zyklus von Wintergärten, deren Wesen man ähnlich charakterisieren kann, ist im alten botanischen Garten von Zürich zu sehen. In den italienischen Bars ist die räumliche Situation klarer; hier wird vielmehr mit dem Blick durch die Fenster gespielt, aus der Bar hinaus auf die Strasse oder von dort hinein, wobei sich gelegentlich die Aussenwelt im Glas spiegelt. Auch in seiner neuen Serie Stillleben holt Leuenberger Elemente der Aussenwelt in den Raum hinein und stellt sie auf den Tisch. Allen Darstellungen ist gemeinsam, dass sie gänzlich menschenleer sind. Personen existieren in seiner Malerei nicht, deren Spuren hingegen sind in jedem Bild gegenwärtig. Die Räume und Landschaften beschreibt er als Stimmungsträger in denen er Seelenzustände ausdrückt. Dafür erachtet er die Technik des Acrylmalens und -spritzens als richtig, ebenso den fotorealistischen Stil, der auch schon als Fotosurrealismus (Peter Zeindler) bezeichnet worden ist. In diesem Stil fühlt sich Leuenberger zu Hause, sieht keinen Anlass, ihn zu ändern. Nur in der Künstlergruppe O.M.O., wenn beispielsweise das gleiche Postkartensujet von allen fünf Mitgliedern immer wieder künstlerisch variiert wird, kommt seine Freude am Experimentieren und an neuen Ausstellungsformen zum Vorschein.

Urs Steiner
NZZ

Dieter Leuenbergers Bilder irritieren: Hierarchien werden durcheinander geschüttelt, Motive gemixt, Bildinhalte formal ad absurdum geführt. Versucht man die Gemälde durch die surrealistische Brille zu betrachten, erscheinen sie allzu fotorealistisch. Andererseits sind Leuenbergers Bilder auch wieder zu phantastisch, als dass sie als Fotorealismus passieren könnten. Bei ihm unterlaufen der naive Rationalismus der Darstellung und das Bombastische der Stimmung die wie geknipst wirkende, unheroische Perspektive. Dieter Leuenberger amalgamiert in seinen Bildern alle Widersprüche. Er zwingt die Betrachter so, der glatten Oberfläche niemals zu trauen und sich zu fragen, wo die Bruchstellen denn zu finden sind.